Schon wieder ein Jahr vorbei, und während ich diese Zeilen schreibe stecken wir schon mitten im Beginn des nächsten Jahrzehnts. 2019 war ein sehr kontroverses Jahr – für die Welt wie ebenso für mich persönlich. Den Rückblick auf Ereignisse in Politik und Gesellschaft kann man dieses mal getrost den restlichen Medien überlassen, denn ich habe dieses Jahr reichlich Fotos geschossen.
Ich erinnere mich noch gut an den 1. Januar 2019, als ich aufwachte und den festen Entschluss fasste etwas „tolles kreatives mit der Fotografie“ zu beginnen. Da stand ich dann, mit reichlich Gebrauchsspuren von der vorangegangenen Silvesternacht und dem Anfang meines Projektes, das ich ganz neumodisch auf den Namen „365 Days“ taufte. Das Ganze musste ja schließlich Instagramtauglich werden.
Meine akademischen Ziele für das Jahr waren auch schnell formuliert. Ich wollte nach Freiburg und Deutsch-Französische Journalistik im Master studieren – mir blieb ein halbes Jahr voller Auswahlverfahren und Vorbereitungen, aber bis jetzt hat ja immer alles geklappt. Ich frischte in der Zeit dann – nennen wir es moderat – mein Französisch auf und las das ein oder andere Buch zu den Deutsch-Französischen Beziehungen.
Meine fotografischen Ziele hatte ich ja bereits gefasst, und am Anfang konnte ich mich kaum vor Ideen retten. Jeden Tag ein Bild machen, ein paar Zeilen dazu schreiben und es in die Welt schicken. Ein digitales Tagebuch mit Einblicken in mein Schaffen, meine Reisen und meine Gedanken. Jetzt blicke ich auch 365 Fotos, jeder Tag ist greifbar und ich kann mich ausnahmsweise mit meinem Siebgedächtnis an alles erinnern – also ab in den Januar. Und den restlichen Highlights des Jahres.
Januar
Der Januar ist einer der Monate, der mit stetigen Fortschreiten einen auf den Boden der Realität zurückholt. Gerade sieht man noch alle seine Freunde, trifft sich die Woche nach Silvester noch ein paar Mal um gemeinsam über die Silvesterpeinlichkeiten zu plaudern und geht dann wieder seiner Wege. In diesem Jahr allerdings war der Januar voller lustiger Bilder, in denen ich meine Wenigkeit selbst inszeniert: ich habe mir Kaffee über den kompletten Körper geschüttet, einen echten saarländischen Arbeiter in seiner heimischen Garage imitiert und mit düsteren Fotos den Konsum und die Gesellschaft verteufelt.



Aber ich habe mich natürlich auch gequält, bin um halb vier morgens aufgestanden um einen Blutmond zu fotografieren, absolvierte einige Schneewanderungen unter widrigen Bedingungen und genoss einen Nahezu-Hörsturz in einem Proberaum.
Februar
Im Februar verschrieb ich mich dann tatsächlich anständiger Arbeit und half bei dem Umzug des Zentralarchives der evangelischen Kirche an der Saar. Jeden morgen fuhr ich mit meinen tapferen Kollegen zum Ort des Geschehens nach Saarbrücken-Malstatt, schleppte zahlreiche Kisten und Schränke und half bei Verhandlungen mit örtlichen An- und Verkaufshändlern. Der Aufwand hat sich gelohnt, die Ordnung ist wiederhergestellt.



In diesen Monat konnte ich außerdem wieder zahlreiche meiner Freunde für meine durchtriebenen Überlegungen gewinnen, erklomm die Homburger Schlossruinen, streifte durch die nächtlichen Hotspots des Saarlandes und betrieb Passivsport in Boulderhallen. Gleichzeitig bereitete ich mich natürlich auf meine große Reise in diesem Jahr vor – zwölf Tage im Heiligen Land.
März
Den Anfang des März verbrachte ich dann in Israel – eine Reise die ich bereits in jungen Jahren im Jahr 2011 antrete. Ich war gespannt zu sehen was sich verändert hat und vor allem auch wie sich meine Art zu fotografieren gewandelt hat. Während meine Fotos doch einen ordentlichen Schub an Qualität verzeichnen konnten war die Lage in Israel nahezu wie vor sieben Jahren: es gibt keine Liebe mehr unter den Menschen. Dennoch habe ich wieder viel gelernt und tolle Menschen getroffen und einige Momente einfangen dürfen.



Nach meiner Rückkehr nach Deutschland war es dann langsam mal wieder an der Zeit in mein Gießener Exil zurückzukehren – zumindest für einen kleinen Anstandsbesuch und ein weiteres Projekt, das mir eine Herzensangelegenheit war: Musik. Zusammen mit den Jungs von Acoustic Drive drehte ich ein paar kleine Videos für deren Songs, fuhr nach Marburg zu Jamsessions und trat das erste mal auf einer Open Stage auf.
Ende März machte ich mich allerdings schon wieder auf den Weg in die Heimat, denn die nächste Reise stand schon wieder auf dem Plan: London.
April
Trotz meiner enormen Vorurteile gegen die Engländer, die ich wohl in der Zeit aufbaute als ich noch in Irland wohnte, gab ich mir einen Ruck und stellte einen Kurztrip nach London auf die Beine und wurde angenehm überrascht. Kaum ein Volk vermittelt so eine Vorsicht und Zuvorkommenheit auf Schildern wie die Engländer. Es ist unmöglich Schaden zu erleiden, denn man wird stets vor allen Gefahren per Ansage, Schriftzug oder Hinweis gewarnt. Aber ein Volk ganz ohne spezielle Vertreter gibt es dann eben doch nicht. Jedenfalls musste ich das feststellen als ich am Parlament entlang ging und sich die Leute wie am Karneval für das Brexit oder Remain-Lager verkleideten. Ein paar blaue Gesichter dort, ein paar rote Schilder da.



Der April führte mich dann weiter nach Freiburg – dort verbrachte ich ein paar Tage, fotografierte die örtliche Lacrossemannschaft und genoss das studentische Nachtleben. Ich konnte es kaum erwarten dort zu studieren dachte ich mir, als ich mich in ICE zurück nach Hause setzte. Nebenbei bekam ich Familienzuwachs und ersteigerte mir meine Traumfrau: die Canon 5D Mark III.
Zu Hause angekommen startete ich dann meine Karriere als Urban Explorer und erkundete ein paar verlassene Orte. Außerdem gab es einen kleinen Abstecher zu einem Chateau nach Frankreich und einen Abstecher nach Gießen um ein paar Musikvideos in Unterführungen und Parkdecks zu führen.
Mai
Pünktlich zum Mai machte ich mich dann auf zu der Lieblingsinsel der Deutschen: Mallorca. Zum ersten Mal seit meiner Fahrt nach Lloret de Mar bewegte ich mich in einen äußerst limitierten Radius und versuchte nur die nächsten drei Tage der konstanten Flüssignahrungsaufnahme zu überleben.



Die restlichen Tage des Mai verbrachte ich dann wieder mit meinem perfektionierten Wohnsitzhopping zwischen Gießen und dem Saarland. Ich fotografierte viele Orte, die ich schon tausend mal gesehen hatte, spielte ein wenig mit Photoshop herum und machte das ein oder andere Mal Saarbrücken unsicher.
Juni
Neuer Monat, neue Reise. Diesmal verschlug es mich reichlich spontan nach Prag. Und zum ersten Mal seit langen verbrachte ich den Tag damit mich komplett auf eigene Faust durch die Stadt treiben zu lassen und mir ein paar Perlen abseits des Tourismus anzuschauen. So entdeckte ich ein Bierfestival, Holzkirchen im Wald und ein fliegendes Holz-Luftschiff.



Juli
Nach all der Rumtreiberei wurde es so langsam ernst an der Zukunftsfront. Mein Auswahltest in Freiburg stand an. Am Breisgau angekommen nutzte ich die letzten Stunden zur weiteren Vorbereitung. Am nächsten Morgen durfte ich dann über 90 Minuten einen Stapel Papier auf Deutsch und Französisch beschriften. Mit einem eher flauen Gefühl streife ich dann durch Freiburg und gehe die Dreisam ablichten. Ab jetzt kann ich nur noch warten und hoffen.



Die ersten Festivals stehen in der Heimat an. Das Electro Magentic ist die Generalprobe für das Rocco der Schlacko, das knapp einen Monat später stattfinden soll. Ich sehe alte Freunde, wir kommen zusammen und ziehen uns für den Auftakt an, als würden wir gerade aus einem 90er Jahre Musikvideo entspringen. Ein paar Tage später folgt eine legendäre WG-Party in einer belebten Saarbrücker Straße, bevor es wieder Zeit wird nach Gießen zurückzufahren – für ein paar Tage zumindest.
August
„Ich will gar nicht wissen wie viel Geld ich der Bahn dieses Jahr schon überwiesen habe“, denke ich mir als wieder mal in den Zug nach Saarbrücken steige. Zu Hause erwartet mich allerdings wieder ein freudiges Ereigns: das Rocco del Schlacko. Einen Anlass den ich nutze um das letzte Abendmahl zu rekonstruieren – was gäbe es für einen besseren Tag als den letzten des Festivals. Der Tag an dem sich die Menschen ein letztes Mal aufraffen um von mir für ein Foto genötigt zu werden.



Wenige Tage später folgt meine traditionell jährliche Fahrt nach Bad Kreuznach, gemütliche Stunden am Schwenker und ein kleiner Ausflug an einen See, wo ich mich sehr vergeblich an diesem neumodischen Stand-Up-Paddling/Pilsing versuche.
September
Als ich den Briefkasten öffne erscheint vor meinem geistigen Auge das Damoklesschwert: ein Couvert der Uni Freiburg liegt darin, der Brief der entscheidet ob ich mein Etappenziel erreiche oder nicht. Zum ersten Mal seit langer Zeit fällt es auf mich hinab: eine Absage. Ein Schock. Die letzten unbeschwerten Wochen des Fotografierens, all die Zeit des Reisens ist für einen kurzen Moment wie weggefegt.



Zum Glück sind solche Momente bei mir nicht von langer Dauer, ich entscheide mich dann eben mein Masterstudium einfach weiter in Gießen aufzunehmen, die Leute werden sich freuen mein Gesicht noch ein paar weitere Monate sehen zu dürfen und so schlimm ist die Stadt ja nun auch nicht.
Ich nutze die Enttäuschung über mein persönliches Unvermögen und Scheitern und setze es in Fotos um. Ich wate durch Bäche, wandere durch den Taunus und nehme mal an einem Leica-Workshop teil. Ein paar Kontakte bei einer Edelkameramarke können schließlich einem gescheiterten Studenten nie schaden.
Oktober
Bald fangen wieder die Vorlesungen an und ich strotze nur so vor Motivation: Öffentliches Recht und Fachjournalistik Geschichte habe ich mir ausgesucht. Während ich mir meinen Stundenplan zusammenstelle steigt die Vorfreude – endlich wieder an der Uni sitzen, neun Leute sehen und auf das nächste Ziel hinarbeiten. Vor meinem inneren Auge sehe ich aus wie ein vor Juristerei strotzender Fotojournalist.



Am ersten Tag der Einführungswoche lasse ich mich dann überreden noch für ein paar Stündchen in die Stadt zu ziehen und ein paar neue Kommilitonen kennen zulernen. Hätte ich gewusst dass ich am nächsten Tag mit einem halben Baumarkt inklusive acht Schrauben in meinem Fuß aufwache wär ich lieber daheim geblieben. Ich habe es geschafft mir pünktlich zu Semesterbeginn das Sprunggelenk und Wadenbein zu zerstören. Und damit auch das Semester.
Da lag ich nun, wahrlich gebrochen vom Leben innerhalb weniger Wochen. Meine Sorgen verschoben sich von einem nicht erhaltenen Studienplatz binnen weniger Sekunden zu dem innigen Wunsch irgendwann wieder laufen zu können. Die Zeit im Krankenhaus war – bis auf die verschreibungspflichtigen intravenösen Schmerzmittel – äußerst unangenehm. Die einfachsten Tätigkeiten wurden zu Herausforderungen, auf deren Details ich an dieser Stelle mal nicht näher eingehe. Immerhin ein weiterer Punkt den ich jetzt unter Lebenserfahrung verbuchen kann. Und wenn mich jemand wegen meiner Narbe fragt kann ich jetzt auch ganz cool mit Skaterverletzungen angeben.
November
Die nächsten Wochen sind recht unspektakulär – ich bekomme regelmäßig Blut abgenommen umd darf alle paar Tage bei der Physiotherapie auflaufen, die versucht aus meinem Mammutfuß wieder den eines normal sterblichen zu formen. Aber immerhin kann ich die Zeit nutzen um mich an meinem eigenen Leid zu ergötzen und sinnvollen Tätigkeiten nachzugehen – wie etwas der Sortierung meiner tausenden Fotos.



Im November stand meine nächste Operation an – diesmal allerdings nur unter Lokalanästhesie damit ich den OP-Saal unterhalten kann. Leider war die Anästhesie stellenweise etwas zu lokal und mein Stoffwechsel zu mächtig. Auch die Schraube, die aus meinem Knochen sollte fühlte sich anscheinend so wohl, dass sie sich eine halbe Stunde Zeit lies bis sie einsah meinen Fuß jetzt verlassen zu müssen. Schließlich überstand ich auch dies, und als ich mich gerade in der Klinik umziehe um heimzugehen, bemerke ich eine dezente Blutlache unter mir. Gut, was soll passieren, ich bin ja schließlich im Krankenhaus. Also verlasse ich die Umkleide Richtung Warteraum und erzähle der Schwester, dass ich da leider eine kleine Sauerei angerichtet habe. Ich darf mich wieder aufs Bett legen und sorge für den nächsten Tumult, als bei einer Patientin der Kreislauf absackt weil sie kein Blut sehen kann. Klassisches Krankenhaus Kabarett eben.
Dezember
Es geht aufwärts mit meinem leidenden Fuß und ich bewege mich langsam aber sicher wieder ohne meine geliebten Krücken fort. Das Jahr neigt sich dem Ende und der Kreis schließt sich. Noch ein paar wenige Fotos, ein paar wenige Tage und es ist geschafft. Ein Werk von 365 Bildern. Doch die letzten Wochen waren ernüchternd, ich zückte oft nur noch mein Handy um noch schnell ein durchschnittliches Foto zu machen. Lange Zeit konnte ich wegen meines Fußes eben auch einfach nicht mehr liefern. Die Uploads stockten, weil ich einfach unzufrieden war und als ich dann auch zwei, drei Tage ausließ spielte ich tatsächlich mit dem Gedanken auf der Zielgeraden aufzugeben.



Ich gab mir allerdings wieder einen letzten Schub. Die drei Fotos die mir fehlten suchte ich aus meinem Archiv und bearbeitete sie neu – so wie ich es eben heute tun würde. Und als nach und nach meine Freunde aus aller Welt zurück in Saarland kamen packte mich wieder die Motivation und packte wieder Tag für Tag die Kamera ein und fand meinen Weg vor die Tür.
So schloss sich dann der Jahreskreis wieder mit Silvester – der wohl längsten Tradition, die ich zusammen mit meinen Freunden pflege, neben dem gelegentlichen Konsum schmackhaften Ur-Pilses. Mission erfüllt.
Fazit
Unterm Strich habe ich in diesem Jahr reichlich dazugelernt. Ich habe gelernt bessere Fotos zu machen, ich habe auf sehr schmerzliche Weise gelernt, dass es nicht alles immer so läuft wie man es sich eben wünscht. Ich habe ein ganzes akademisches Jahr verloren – einmal selbstverschuldet und einmal durch höhere Gewalt. Aber ich habe in diesem Jahr auch so unheimlich viele Dinge mit anderen Menschen geschaffen. Nicht nur die Bilder, Videos und Musik, sondern auch all die Tage und Momente, all die ausufernden Abende, all die Gespräche über Sinn und Nonsens.

Und für all die Arbeit, Unterstützung, Wertschätzung und all den Einsatz, der nicht nur meinem Projekt, sondern auch meiner Wenigkeit zu Teil kam, bleibt es mir nur noch einmal Danke zu sagen. An all die Menschen, die sich mit mir durch Wälder schlugen, durch das Land fuhren, mir Obdach gewährten (was ziemlich oft der Fall war), mit mir auf Reisen waren, sich meinen wahnwitzigen Ideen beugten und schließlich mein Jahr so umheimlich erfüllt haben sei einfach nur Danke gesagt.
Nach dieser Ansammlung von Floskeln will ich noch einmal das Danke ausdrücklich betonen. Denn bei all den Menschen, die mich in diesem Jahr und hoffentlich auch dem nächsten Jahr umgeben kann ich mich nur auf 2020 freuen.