Zwischenruf auf Hamburg #1 – Das Elend der Großstadt

Auf meinem heutigen Heimweg werde ich nach den zahllosen Treppenstufen an der Hafenstraße von einer jungen Frau angehalten. Ich muss erst einmal bremsen, denn ich bin die Treppe in alter Rocky Balboa Manier hinauf gesprintet. Sie fragt mich ob ich ein Foto von ihr und ihrer Frauengruppe machen könne und drückt mir ihr iPhone 6 in die Hand. Da mein Handy momentan in Trümmern liegt, überlege ich mir ob ich kehrt machen soll, und damit wegrenne.  Doch bevor ich meinen Gedankengang beende stellt sich mir der St. Pauli Nachtwächter vor, den die jungen Frau ebenfalls für das Foto genötigt haben.

„Ich bin der Nachtwächter, bist du auch Kiezianer“?, fragt der alte Mann in einer Mischung aus Wachdienst- und Kapitänsuniform mich. Ich entgegne ihm, dass ich erst vor einer Woche zugezogen bin, die Frauen waren wieder schnell interessanter für ihn. Er wankt mit einer Laterne in der Hand zu ihnen, und macht sich für das Foto bereit. Es regnet, also beeile ich mich ein wenig mit dem spontanen Shooting. Der Nachtwächter witzelt schon über sein Honorar. „20 Euro macht das dann“, sagt er mit feinsten norddeutschen Akzent. Hamburg ist voller guter Seelen denke ich mir, doch mein weiterer Weg führt über die berüchtigte Sündenmeile Hamburgs.

Der nahezu unregelmäßiger Gang über die Reeperbahn ist immer eine ständige Erinnerung an das Leid, das Menschen widerfahren kann. Bei allen guten Seelen der Stadt schwirren auch einige verlorene umehr. An einem Nachmittag beispielsweise kommt mir ein sichtlich gezeichneter Mann entgegen, der vor sich her murmelt. Er schüttelt den Kopf, schleudert plötzlich die Tüte Pommes, die er in der Hand hält auf den Boden, spuckt ihr drei mal hinterher. Ich schaue bedächtig vor mich und gehe an ihm vorbei.

Heute morgen auf meinem Weg zur Arbeit zucke ich am Spielbudenplatz zusammen. Eine Frau liegt auf einer Treppe, sie trägt Kopfhörer, Sonnenbrille und Kapuze. Sie windet sich über die Stufen, und schreit in einem 30 Sekunden Turnus, sodass es ein Echo von der gegenüberliegenden Straßenseite gibt. Doch das geht schnell im Geheul der Polizeisirenen unter. Ich richte meinen Blick weiter nach vorne, ich muss schließlich zur Arbeit.

Die tägliche Konfrontation damit, welch Elend die Menschen trifft, wie sie sich in der Spirale des vermeintlich Ausweglosen drehen lässt einen abstumpfen. Man versteckt sich hinter der Anonymität der Großstadt, man sieht weg, geht weiter. Die Gräben scheinen zu tief, das man sie überwinden könnte. Doch dann gehe ich Richtung Bahnhof, dem Sammelbeckens derer, die es verlernt haben sich selbst helfen zu können. Eine Frau hält mit ihrem Wagen auf einem Parkplatz davor. Ihr Kofferraum ist bis zum Dach mit Brötchen gefüllt. Ihr kleiner Sohn hilft ihr dabei das nötigste an eine Gruppe Obdachlose zu verteilen. Schon nach einer Tüte Brötchen antwortet einer von ihnen der Frau: „Danke, aber mehr können wir nicht nehmen.“ Eine gute Seele traf eine verlorene.

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